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2015-2016: Vier Fälle für P.U.M.U.K.L.
Pia Bongard, Janine Holz, Mira Schoenwald, Kathrin Lemler, Martin Baunach

Originelle und aussagekräftige Projekttitel sind die halbe Miete- das haben wir, Kathrin Lemler und Martin Baunach als Ehrenamtler bei Rollipop in Köln gelernt.

CoBra-UK (2012-2013)

Hinter dem an eine erfolgreiche TV- Krimiserie der 60er Jahre erinnernden Titel dieses „kleinen“ ISAAC-/ Rollipop- Projektes verbarg sich die auf die Co- Referenten- Ausbildung aufbauende Qualifikationsmaßnahme Coaching der Beratung durch Unterstützt Sprechende an (Förder-) Schulen“, die drei unterstützt sprechenden „Hot Speakers“ (Kathrin Lemler, Mayal Petersen, Frank Klein) ermöglichen sollte, das Feld ihrer UK- Tätigkeit zu erweitern.

UK Scout (2013-2014)

Pfadfinder wissen, wo’s lang geht- das haben die einschlägig bekannten Co-Refs (siehe CoBra-UK) in diesem Projekt eindrucksvoll bewiesen, das sich mit Nachwuchsförderung im Bereich UK und Modelling durch UK-Vorbilder beschäftigte.

Ein Teilnehmer des UK Scouts – Luca Prachthäuser aus Siegen, der mit grandiosem Erfolg von Mayal Petersen gefördert wurde und im letzten Jahr die Rubrik „Schöner Wohnen“ in dieser Zeitschrift betreut hat war Anlass für das nunmehr abgeschlossene Rollipop- Projekt mit dem mysteriösen Namen

P.U.M.U.K.L. (2015-2016)

Wir alle kennen Pumuckel- die kleine, vorwitzige und stets Fragen stellende Kinderbuchfigur von Ellis Kaut. Sicherlich war sie auch Vorbild für dieses kleine Rollipop-Projekt, denn neugierig sein und viele Fragen zu stellen- das hatten wir, das Projektleitungsteam Lemler-Baunach, uns für P.U.M.U.K.L. vorgenommen.

Unsere Abkürzung steht für Projekte und Medien für Unterstützte Kommunikation und Literacy und kennzeichnet die Projektidee:

Projekte- das sind kleine, aber über ein gesamtes Schuljahr durchgeführte Einzelförderung von unterstützt sprechenden Schülerinnen und Schülern an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung in Köln, Rösrath und Olpe, durchgeführt von Studierenden der Universität zu Köln im Lehramt für sonderpädagogische Förderung mit der Fachrichtung KmE und dem Unterrichtsfach Deutsch. Den Medien für eine erfolgversprechende Literacy-Förderung gehörte unsere besondere Aufmerksamkeit und die Umsetzung deckte die gesamte Spanne von „unplugged“- Förderung nur mit Buchstaben- und Silbenmaterial über das „Silbenhotel“ bis zum Einsatz von Lern- Apps auf dem Tablet und den Nutzen von What’s App ab. Für den Zusammenhang zwischen UK und Literacy hatten wir mit Kathrin Lemler in der Projektleitung natürlich eine Erziehungswissenschaftlerin mit „Primär- Erfahrung“, die uns in vielen Projektteam- Sitzungen weiterhalf.

Das Projektdesign im Überblick:

Kathrin Lemler formulierte für den Projektantrag in welchem Kontext die besondere Wichtigkeit dieses Projekts zu sehen ist:

Sehr geehrte Damen und Herren,
der Erwerb von Schriftsprache ist heutzutage eine zentrale Schlüsselkompetenz, die Menschen befähigt sich im Alltag zu orientieren, diesen zu bewältigen und mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Insbesondere für Menschen, die behinderungsbedingt ihre Lautsprache nicht nutzen können, ist Schriftsprache ein wichtiges Kommunikationsmedium, da sie sich mit Hilfe der Schriftsprache höchst flexible und differenziert ausdrücken können. Dies steigert ihre kommunikative Kompetenz, die gesellschaftliche Teilhabe und somit ihre Lebensqualität maßgeblich. Aufgrund fehlender Lautsprache stellt jedoch der Schriftspracherwerb gerade für unterstützt kommunizierende SchülerInnen eine besondere Herausforderung dar. Im regulären Deutschunterricht gelingt es selbst an der Förderschule aktuell kaum auf die spezifischen Bedürfnisse unterstützt kommunizierender SchülerInnen einzugehen und ihnen so den Zugang zu der zentralen Kulturtechnik „Schriftsprache" zu ermöglichen.

„Projekte und Medien für Unterstützte Kommunikation und Literacy (PUMUKL)“ umfasst ein spezifisches Förderprogramm zur Weiterentwicklung der Lese- und Schreibkompetenz unterstützt kommunizierender Kinder und Jugendlicher. An PUMUKL nehmen im Zeitraum des Schuljahres 2015/2016 ca. fünf unterstützt kommunizierende SchülerInnen teil. Diese haben bereits erste Lese- und Schreiberfahrungen im schulischen Kontext gesammelt, zeigen hohes Interesse an Buchstaben und sind zum Erlernen von Schriftsprache motiviert.

Im genannten Projektzeitraum werden die TeilnehmerInnen kontinuierlich von angehenden Lehrerinnen und Lehrern für sonderpädagogische Förderung auf ihrem individuellen Weg zur Schriftsprache unterstützt. In wöchentlichen Einzelsitzungen findet zunächst eine umfassende Diagnostik statt, wodurch der Ist-Zustand der Lese- und Schreibfähigkeiten erfasst wird. Diese bildet die Grundlage für einen speziell auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zugeschnittenen Förderplan. Die Interventionen des Förderplans werden hauptsächlich im Rahmen der Einzelsitzungen von den Studierenden und in Kooperation mit der Lehrkraft vor Ort umgesetzt. So können die in der Einzelförderung erarbeiteten Inhalte im Unterricht weiter vertieft werden. Die Arbeit der studentischen Kräfte wird mit Videos dokumentiert und in monatlichen Sitzungen gemeinsam mit den Projektleitern supervidiert. Auf diese Weise kann die spezifische Förderung der unterstützt kommunizierenden Kinder und Jugendlichen in einem zirkulären Prozess ausdifferenziert und kontinuierlich verbessert werden.

für das Projektleitungsteam P.U.M.U.K.L.:
Kathrin Lemler, Erziehungswissenschaftlerin

Pia Bongard, Janine Holz und Mira Schoenwald, drei Master- Studentinnen im Lehramt für sonderpädagogische Förderung, berichten von ihren Erfahrungen. Wir möchten die geschätzte Leserschaft bitten, bei den folgenden Berichten auch „zwischen den Zeilen“ zu lesen- und im Anschluss daran wie Pumuckel neugierige Fragen zu stellen- zum Beispiel zur Qualität schulischer Förderung und zur Kooperation zwischen schulischen Bezugspersonen. Wir werden am Ende des Artikels darauf zurückkommen.

Ein Fall für Pia Bongard

Im Rahmen des Projektes P.U.M.U.K.L konnte die 9-jährige Schülerin Mara ihre Kompetenzen im Bereich des Schriftspracherwerbs erweitern. Sie besucht die 1. Klasse einer Förderschule KmE. Aufgrund einer Cerebralparese ist sie motorisch sehr eingeschränkt. Bis auf wenige Buchstaben bzw. Wörter ist sie aufgrund einer Sprach- und Sprechstörung nicht in der Lage lautsprachlich zu kommunizieren. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, sodass sie zweisprachig aufwächst. In der Schule kommuniziert sie, seit Februar 2015, über eine Kommunikationshilfe, dem sogenannten MyCORE-Talker.

Während der Einzelförderung war Mara hochmotiviert. Leider musste die Förderung häufig aufgrund des gesundheitlichen Zustands der Schülerin ausfallen. In der Förderung waren Struktur und Transparenz zentrale Elemente. Da die Konzentrationsspanne von Mara bei ca. 30 min liegt, wurde in der Mitte der Fördereinheit von 90 min eine Pause eingelegt.

Im Rahmen der Förderung wurde sehr alltagsbezogen gearbeitet, sodass der Schülerin die Bedeutung von Schrift bewusst wurde. So haben wir persönliche Steckbriefe erstellt, Einkaufszettel geschrieben und gelesen, eine Postkarte und viele Whats-App Nachrichten verfasst. Zu Beginn der Förderung lag der Fokus auf Vokalen und ihrer Funktion als Anlaut. Es wurden Buchstabenseiten entwickelt, die ebenfalls als Sprachanlass dienten. Anschließend wurden weitere lautgetreue Buchstaben hinzugenommen und die Anlautbestimmung geübt. Im weiteren Verlauf wurde die Arbeit von Buchstaben hin zu Silben erweitert. Mit Hilfe eines Silbenhotels wurde Mara verdeutlicht, wie aus zwei Buchstaben eine Silbe gebildet wird. Im Anschluss daran wurde begonnen, mit Silben Pseudowörter und reale Wörter zu schreiben. Hier schrieb Mara die Silben bzw. Wörter mit dem Talker. Da ihr das Schreiben mit der Hand motorische Probleme bereitet, wurden die einzelnen Buchstaben zudem gestempelt. Zur Förderung der inneren Stimme sprach ich beim Schreiben bzw. Stempeln die einzelnen Buchstaben und Silben laut mit. Parallel habe ich die Silben vorgeklatscht. Während des Schuljahres haben wir auch mehrfach mit Reimen gearbeitet und versucht Reimpaare zu finden. Mara ist in der Lage Wörter zu identifizieren und Wörter zu finden, die mit der gleichen Silbe beginnen. Auf diese Weise haben wir begonnen Wörter zu schreiben. Da für das Schreiben von Wörtern, neben dem Anlaut ebenfalls der In- und Auslaut relevant ist, wurde mit deren Bestimmung begonnen. Die Schülerin hatte dabei jedoch noch große Schwierigkeiten. Während des Schreibens wurde sich nun vermehrt auf lautgetreue Namen konzentriert. Nachdem erste Namen und Wörter mit meiner lautsprachlichen Unterstützung geschrieben werden konnten, konnte die Schülerin erste Sätze schreiben. Am Ende jeder Einheit erfolgten eine kurze Reflexion und eine Belohnung in Form einer Krone (Stempel).

Im gesamten Projektverlauf konnte Mara ihre schriftsprachlichen Kompetenzen kontinuierlich erweitern. Durch die intensive Einzelförderung entwickelte sie so ein Verständnis für die Bedeutung von Schrift, kann aus Silben einfache Wörter bilden und schreibt kurze Sätze.

Ein Fall für Janine Holz

Armin ist in seinen kommunikativen und körperlichen Möglichkeiten sehr stark eingeschränkt, weshalb er keinerlei lautlich verständlichen Worte bilden und ohne Assistenz kaum Aufgaben bewältigen kann. Die Schwere seiner Cerebralparese schränkt ihn in seinem schulischen Alltag sehr ein, da er viele Therapien wahrnehmen muss und sich durch die starke Spastik oftmals nicht so intensiv auf Lerninhalte einlassen kann, wie er das gerne möchte. Dies erforderte in der Förderung eine hohe Flexibilität, da die Methoden und Lerninhalte an seine Tagesform angepasst werden mussten.

Seit eineinhalb Jahren nutzt Armin einen Tobii, den er aufgrund der starken motorischen Einschränkungen über eine Augensteuerung bedient. Vorher wurde dem Schüler ausschließlich eine Kommunikation über Entscheidungsfragen und der Antwortmöglichkeit mit Hilfe von Ja-/ Nein-Symbolen angeboten. Auch die Kommunikation mit Hilfe des Tobiis ist noch lange nicht ausgereift, da die Ausstattung des Geräts bislang eine freie Kommunikation durch ein „sehr überschaubares“ Vokabular und wenig Verknüpfungen für eine selbstständige Bedienung verhindert. Auch die restliche Hilfsmittelversorgung lässt bei diesem Schüler zu wünschen übrig, da er beispielsweise in seinem Rollstuhl keine gute Sitzhaltung für eine gezielte Ansteuerung des Tobiis einnehmen kann. Diese Bedingungen führten zu Beginn der Förderung dazu, dass zunächst viel über Auswahlkarten realisiert wurde, da die Anstrengung der Bedienung des Tobiis zu stark im Fokus stand und dem Schüler zu viel Kraft raubte, weshalb er sich folglich nicht mehr auf die Lerninhalte konzentrieren konnte. Es zeigte sich im Verlauf der Förderung, dass motorische Übungen wie das Nachspuren von Buchstaben enorm wichtig sind, auch wenn diese nur mit einer Assistenz ermöglicht werden können. Sie unterstützen die Verinnerlichung der Form der Buchstaben unterstützt, die für die Kinder aufgrund fehlender Erfahrungen im Bereich der Formwahrnehmung bereits erschwert ist. Zur Aufrechterhaltung der Motivation diente ein abwechslungsreiches „Programm“: Zu den Buchstaben der Woche zog der Schüler etwa Gegenstände aus einer Tüte, in denen er den Buchstaben auditiv entweder als Anlaut, Inlaut oder Auslaut und auch schriftlich fixiert wahrnehmen konnte.

Für Armin war es besonders wichtig, dass die Förderung gut strukturiert und die Methoden so ausgelegt waren, dass er zu vielen Erfolgserlebnissen kam. Aus diesem Grund wurde nach etwa der Hälfte der Förderung der Tobii hinzugenommen. Armin konnte seine Kompetenzen sehr gut reflektieren und verweigerte folglich vor allem die Arbeit an Arbeitsblättern, von denen er selbst wusste, dass er bei der Lösung auf zu viel Assistenz angewiesen ist. Im weiteren Verlauf der Förderung war zu beobachten, dass er gegenüber der Sprache und Schrift immer sensibler wurde und sich selbst im Raum umsah, um beispielsweise noch andere Gegenstände zu finden, in denen der gerade behandelte Buchstabe zu hören ist. Als gute Unterstützung und Anbahnung des Schreibprozesses erwies sich das Untergliedern von Wörtern in Silben. Armin machte rasch Fortschritte in der Laut- Buchstaben- Zuordnung und nutzte bald die Möglichkeit, einfache Silben zu verschriften und somit das erste Mal eigenständig zu schreiben. Da ihm das handschriftliche Schreiben nicht ohne Assistenz gelingt, entwickelte ich eine Tastatur auf seinem Tobii, die ihm selbstständiges Schreiben möglich macht.

Diese Tastatur ist in ihrem Aufbau an eine QWERTZ- Tastatur angelehnt und farblich unterteilt um ihm durch eine „Reduktion“ der jeweils präsentierten Buchstaben die Auswahl eines Buchstabens zu erleichtern. Anhand von Spielen wurde geübt, welcher Buchstabe unter welcher Farbe zu finden ist. Für den Schreibprozess war eine deutliche lautsprachliche Unterstützung meinerseits sehr wichtig, um die Entwicklung einer „inneren Stimme“ zu unterstützen.

Armin verschriftete einzelne Wörter aus einem motivierenden, individuell bedeutsamen altersgerechten und interessenbezogenen Kontext. So wurden in der Förderung zum Beispiel kleine witzige Geschichten geschrieben, die in Hinblick auf die Erfahrung der kommunikativen Funktion der Schrift, an Kathrin Lemler gemailt, von ihr weitergeschrieben und in der nächsten Förderung vorgelesen wurden. Auch das aktuelle Thema der Europameisterschaft, verbunden mit der Fußballbegeisterung des Schülers, wurde für Schreibanlässe genutzt. So schrieb er die Namen der Spieler und Fußballberichte, in denen er kleine Wörter, lautgetreue Substantive etc. verschriften konnte. Neben der digitalen Tastatur auf dem Tobii, nutzte Armin immer auch eine ausgedruckte Tastaturvariante auf seinem Tisch liegen, um nachschauen zu können, was er bisher verschriftet hatte, da die ausgedruckte Tastatur ein Schreibfeld mit den aufgekletteten bereits geschrieben Buchstaben.

Die Förderung hat insgesamt gezeigt, dass Armin im Verlauf des Schuljahres einen großen Entwicklungssprung gemacht hat, ausgehend von einer guten auditiven Wahrnehmung jedoch ohne den Bezug zu Schriftzeichen, hin zur Kenntnis der Buchstaben, der Beherrschung der Laut-Buchstaben-Zuordnung, der Einsicht in das phonematische Prinzip unserer Schrift und der Realisierung eigenständigen Schreibens lautgetreuer Wörter.

Ein Fall für Mira Schoenwald

Bettina, 14 Jahre alt, ist sehr motiviert und möchte unbedingt lesen lernen! Sie ist motorisch stark eingeschränkt, sitzt im Rollstuhl, sie kann mit einer Hand aktiv agieren, die andere liegt auf ihrem Schoß. Sie kann einen Stift halten, Kreuze machen und Sachen verbinden, jedoch kann sie keinen manuell „keinen Druck aufbauen.“ Sie hat eine starke Sehbeeinträchtigung und trägt eine Brille. Die visuellen Wahrnehmungsleistungen scheinen insgesamt stark beeinträchtigt, da Bettina auch Probleme im Bereich der Raum-Lage und Figur-Grundwahrnehmung zeigt. Die verbale Kommunikation ist vorhanden, ihre Artikulation ist undeutlich, langsam und sie spricht meist in „ Ein – Wort – Sätzen“. Sie hat ein iPad mit „Sono (-)Flex(x)“, welches sie hauptsächlich für Spiele benutzt. Sie hat von der Schule keine Einführung in die Kommunikationshilfe erhalten. Bettina hat ein altersgemäßes Sprachverständnis.

Mit Hilfe des „Einschätzungsbogen UK & Literacy“ von Dierker wurde diagnostiziert, dass sie die Präliteral- basale und die Präliteral –symbolische Phase 1 des Schriftspracherwerbs komplett abgeschlossen hat. Aufgrund ihrer Motorik kann sie nur mit Unterstützung den Stift halten, deswegen kann sie in der Präliteral –symbolische Phase 2 weder gegenständlich, noch schriftähnliche Zeichen malen. Ebenso ist das Erkennen von Reimen nicht vorhanden. Sie hat noch keine auditive und visuelle Vorstellung der Wörter. Die Inhalte der Logographemischen Phase werden teilweise erreicht, Bettina kennt die Schreibrichtung und kann durch das Vorlesen Informationen entnehmen. Jedoch kennt sie den Begriff der Vokale, Nomen, Verben etc nicht. Sie kann keine Ganzwörter lesen (Silbenzusammenschluss fehlt), sondern buchstabiert alles. Sie kann Silben trennen und klatschen. Bei der alphabetischen Phase 1 wird deutlich, dass Bettina alle Buchstaben kennt, jedoch nicht das Phonem sagt, sondern den Buchstabennamen. Bettina hört An- und Endlaute und Wörtlängen heraus. Mit Hilfe des iPads kann sie alle Wörter fehlerfrei abschreiben und auch einfache lautgetreue Wörter ( z.B. Mama, Auto) verschriftlichen. Ihre auditive Aufmerksamkeit ist sehr schwach, so hat sie nach dem Lesen der zweiten Silbe eines Wortes die erste bereits vergessen. Dadurch ist das sinnentnehmende Lesen deutlich erschwert.

Nach der ausführlichen Diagnostik wurden folgende Ziele der Förderung festgelegt:

  • Festigung der Graphem- Phonem- Korrespondenz
  • Training von Lautsynthese/ Silbenlesen
  • Aufbau von Satzstrukturen
  • Aktivierung der Handmotorik
  • Förderung der visuellen und auditiven Merkfähigkeit

Der methodische Aufbau meiner Einzelförderung war stets gekennzeichnet durch einen „Wochen – Rückblick“ bei dem Bettina verbal und in korrekter Satzstruktur von der Woche erzählen sollte. Um die Synthese zu verbessern, wurde mit einem Silbenspiel (2-3 silbige Wörter) gearbeitet. Hierbei wurden die Wörter getrennt auf Karteikarten geschrieben (z. B. Ha – se ; To-ma-te). Diese sollte Bettina vorlesen, silbengetreu klatschen und ins iPad abschreiben - später nur durchs Hören aufschreiben. Für diesen Schreibprozess war es wichtig, dass das Wort deutlich ausgesprochen wurde. Es dient der Entwicklung der inneren Stimme (phonetische Repräsentation). Hierbei hat Bettina sehr schnell Fortschritte erzielt und konnte ihre Verbesserung selbst reflektieren und anerkennen. Das hat sie sehr stolz gemacht. Da die visuelle Merkfähigkeit geschult werden sollte, wurden die Buchstaben mit Stiften nachgemalt, dies war für Bettina sehr anstrengend und sie hat gestützte Hilfe benötigt. Auf Nachfrage wurde deutlich, dass Bettina nicht regelmäßig mit Stiften agiert. Eine weitere Übung war das „Ecken- lesen“. Hierbei wurden zwei (2- silbige) Wörter silbengetreu auf Karteikarten geschrieben und im Raum verteilt. Bettina hatte die Aufgabe, die verschiedenen Silben vorzulesen und der passenden anderen Silbe zuzuordnen. Da Bettina motorisch stark eingeschränkt ist, sollte mit dieser Übung auch ihre Handmotorik geschult werden. Bettinas Aussprache ist noch nicht flüssig und deutlich, sie hat oft die Rückmeldung gegeben, dass sie nicht weiß nicht wo die Laute im Mund gebildet werden (r= ch; sch). Das Zusammenziehen von „au“; „eu“; „Sch“; „st“, „ei“ hat zu anfangs nicht gut geklappt, denn es wurde von Woche zu Woche vergessen. Hier hat sich die diskontinuierliche Förderung bemerkbar gemacht.

Bettina hat stets motiviert in der Förderung mitgearbeitet. Mit Hilfe ihrer Bücher, die sie immer mitbrachte, haben wir kleinschrittig ihre Lesekompetenz verbessert, das hat ihr großen Spaß gemacht. Trotz extrem widriger Begleitumstände in der schulischen Förderung hat Bettina deutliche Fortschritte in Bezug auf ihre Schreib- und Lesekompetenzen gemacht. Zum Ende der Förderung hat sie gezeigt, dass sie nun auch die Phonem- Graphem – Zuordnung gut beherrscht und schon eigenständig lautgetreue Wörter scheiben kann.

Positiv zu bewerten ist die Arbeit der Schulbegleiterin; sie war sehr bemüht Bettina zu fördern und hat versucht die Förderung an den Tagen zwischen meinen Förderungen fortzuführen. Man sollte sich jedoch fragen, ob dies wirklich die Aufgabe einer Schulbegleiterin ist, bzw. warum diese nicht im Hinblick auf solche Aufgaben von den Lehrkräften angeleitet wird.

Ein Fall für Martin Baunach

Luca, nunmehr 18 Jahre alt, bis Juli 2016 Schüler der Förderschule KmE in Olpe, hatte schon im vorhergehenden Projekt „UK-Scout“ in seinem Mentor Mayal Petersen seinen Meister gefunden. Innerhalb eines Jahres schaffte er durch hohen Ehrgeiz, Ausdauer, Konzentration, durchgängige Motivation, positive Lebenseinstellung und einem –wie so oft bei erfolgreichen UKlern zu beobachten- hoch engagierten familiären Hintergrund den Umstieg vom Trabbi (SmallTalker mit QK 45) zum Porsche (Accent Talker).

Luca ist hoch kommunikativ und kann sich fließend mit seinem Talker verständigen. Kreativ nutzte er die Strategie „Beschreiben statt Benennen“, wenn er zum Beispiel die Raumreservierung für die Förderung regelte und den Schlüssel für die Schülerbibliothek besorgte: „Guten Morgen, kann ich bitte den Schlüssel für das Bücherei- Geschäft haben?“- Selbstredend war zu Hause bis zur nächsten Förderstunde das Wort „Bibliothek“ gespeichert.

Bei der Diagnostik zu Beginn der Förderung stieß ich auf ein Phänomen, dass mein dreißig Jahre lang mühsam erworbenes, auf Unterrichtserfahrungen basierendes Literacy- Wissen ins Wanken geraten und selbst Expertin Kathrin Lemler staunen ließ : Luca zeigte eine eklatante Divergenz zwischen Lese- und Schreibfähigkeit! Während er in der ersten Förderstunde mühsam das Wort Taxi via ABC- Modus seines Accent Talkers ins Display brachte, gelang ihm über Minspeak die Dekodierung des in Gemischt-Antiqua präsentierten Satzes:

„Du bist ein guter Schüler und ich bin ein guter Lehrer“ völlig mühelos! Luca konnte, wie sich zeigte, das gesamte Vokabular seines aktiven Talker- Wortschatzes nicht nur im Display bei der Satzproduktion, sondern auch in Texten LESEN!

Fazit:

1. Vorsicht mit dem Literacy- Dogma „Ganzwortmethode scheitert stets an den Gedächtniskapazitäten.“ Kann sein- muss aber nicht.

2. Die von mir in der Lehrerausbildung immer wieder betonte gleichzeitige Repräsentanz von Begriffen in Symbolen UND als Wortbild ist Pflicht.

3. Gute Gedächtnisleistungen können kompensatorisch wirken bei eingeschränkter Fähigkeit zur Lautsynthese- in Bezug auf das LESEN, nicht auf das SCHREIBEN.

Aufgrund des geschilderten Phänomens wurde der Schwerpunkt der Förderung auf den Bereich des Schreibens gelegt. Hier galten vorrangig und durchgängig zwei Prinzipien, die die insgesamt 40 Fördereinheiten (jeweils 90 min. nonstop) im Verlauf des Schuljahres kennzeichneten: Luca lernte den „Werkzeugkasten“ des Schreibens kennen, indem er unter dem Aspekt „Phonologische Bewusstheit“ metasprachliche Kompetenzen erwarb. Diese Untersuchung von Sprache geschah durch ritualisierte Analyse von Textmaterial, bevor es ans Schreiben ging:

  • Wie heißen die 5 Vokale? - Altersentsprechend wurde auf den aus Schülersicht völlig irrelevanten Begriff „Selbstlaute“ verzichtet.
  • Wieviele Silben hat das Wort – auditiv: das gute alte Silbenklatschen, im Text Zweifarbmarkierung à la „ABC der Tiere“ (Mildenberger Verlag)
  • Jede Silbe hat mindestens einen Vokal- welchen hörst du?

Dann erfolgte ein silbenweises Schreiben. Auffällig war hier, dass Luca trotz bester Konzentrationsleistungen in seinen Schreibversuchen sowohl am Talker wie „unplugged“ mit Buchstabenkarten, die er auf der Tischplatte schob, stets Wörter kreierte, die alle Buchstaben korrekt beinhalteten, diese aber in falscher Reihenfolge legte. Hier zahlte sich nun der Erwerb metasprachlicher Kompetenzen aus: Auf den saloppen Hinweis hin „Mach mal den Mixer aus!“ gelang es Luca zunehmend sicherer, die Reihenfolge der Buchstaben zu korrigieren. Im weiteren Verlauf reichte ein vereinbartes Handzeichen. Zum Ende der Förderung kamen noch die Strategien „Antizipation“ und „Transfer“ zum Tragen: Wenn ich nicht weiter weiß, den Vokal in der Silbe kenne, den Mixer ausgestellt habe und immer noch nicht erfolgreich war- probiere ich systematisch die häufigsten Konsonanten der deutschen Sprache aus: m, n, r, s, t. Auch die Fähigkeit zum Transfer hat sich bei Luca gut entwickelt: Wenn ich weiß, wie gehen am Wortende geschrieben wird, schaffe ich es auch laufen, springen etc. richtig zu schreiben- da klingt ja was gleich!

Das zweite Prinzip in der Förderung war die durchgängige aktive Beteiligung Lucas bei der Förderplanung. Anschluss statt Ausschluss- der Titel dieses in einem anderen pädagogischen Kontext zu findende Mottos trifft auf Luca und seine Kommunikation besonders zu: Luca hat gelernt, via Talker und Tablet mit bluetooth- dongle mit seinen Freunden zu whatsappen- und nutzt dies manchmal auch schon ohne Minspeak im ABC- Modus seines Talkers. So greifen Alltagsbewältigung und Förderung Hand in Hand.

Da die Förderung insbesondere das Schreiben fokussierte, haben wir „Lucas Geschichtenheft“ angelegt. Zu 10 von ihm gewählten Themen schrieb er via Talker/ Minspeak zu Hause und im Klassenunterricht Texte, die dann jeweils die Grundlage der Förderung bildeten (siehe Abbildungen). Fazit: Eine Förderung, die Luca (und mir!) ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit brachte, große Fortschritte im Schreiben und Lesen lieferte- und am besten noch ein Jahr weiter geführt werden sollte…

Projektauswertung
Kathrin Lemler und Martin Baunach

Welches Fazit ziehen wir nun als Projektleitung aus dem Projekt P.U.M.U.K.L?

Alle Schülerinnen und Schüler haben innerhalb des Projektzeitraums ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten erweitern können. Dies führte zu großen individuellen Fortschritten jedes einzelnen. Die Zusammenarbeit im P.U.M.U.K.L.- Team war professionell, effektiv und atmosphärisch äußerst angenehm. Es beruhigt, angehende Lehrerinnen zu sehen, die wie selbstverständlich die Forderung nach kontinuierlicher, hoch fachlicher, kompetenzorientierter Bildungsarbeit auch mit Schülerinnen und Schülern mit komplexer Behinderung fordern.

Mit allen beteiligten Schulen wurden Kooperationsverträge geschlossen, die die Verpflichtung zur Kooperation mit den Projektmitarbeiterinnen ebenso beinhalteten wie die Notwendigkeit, initiierte Förderschritte im Klassenunterricht umzusetzen. Das ist jedoch – auf Kosten der Schülerinnen - in zwei von vier Fällen nur unzureichend, in einem Fall überhaupt nicht passiert. In letzterem Fall geschah Bildungsarbeit in der Klasse ausschließlich durch eine Schulbegleitung und es kam zu dem Versuch eines Bilanzgespräches mit der Projektleitung, in dem sich eine Klassenlehrerin in unserer Wahrnehmung durch ihr Auftreten selbst disqualifiziert hat.

Es gibt eine Stiftung, die eine Projektförderung abgelehnt hat, weil sie den im Projektantrag beschriebenen Projektinhalt als originär sonderpädagogische, von den bezahlten schulischen Lehrkräften zu leistende Aufgabe sieht. Hat sie nicht recht?

P.U.M.U.K.L. zeigt letztendlich, dass es möglich ist Schülerinnen und Schüler mit komplexen Behinderungen ohne Lautsprache an Schriftsprache heranzuführen. Es ist nun die Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen didaktische Wege zu finden, um allen die Erfahrung mit Schrift zu ermöglichen. Nach wie vor ist es ein Systemfehler, dass sich Schulleitung mancherorts nicht in der Verantwortung für Unterrichtsqualität- auch für Schülerinnen und Schüler mit komplexer Behinderung sieht.

Aber lösungsorientiert gefragt:
Wie kann die Meta- Kommunikation im System Schule hinsichtlich Qualitätsstandards von Förderung, Verbindlichkeit in der Einhaltung von Vereinbarungen und Verzahnung innerhalb des hochdifferenzierten Systems (Förder-) Schule gewährleistet werden?

Dieser Frage wollen wir in einem Folgeprojekt auf den Grund gehen.

Projektteam P.U.M.U.K.L.
Kathrin Lemler und Martin Baunach
kontakt@rollipop.org

Dieser Artikel ist auch in der Fachzeitung „Unterstützte Kommunikation 03/2016“, im von Loeper Verlag Karlsruhe erschienen.